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...weil ich es mir wert bin.

Vom Ende der Ich-Gesellschaft. Ein Rückblick.


von woho
Es begann mit diesen Umzügen vor der Nikolaikirche in Leipzig. Zuerst waren sie ganz leise, mit Kerzen in den Händen. Dann wurden die Sprechchöre immer lauter: "Wir sind das Volk!"
Dieses "Wir" klang uns noch lange in den Ohren. Es hatte alles verändert, auch unsere kleine Welt im Mühlviertel. Die lange Grenze im Norden war plötzlich offen, verschwunden waren Stacheldraht und Minenfelder. Alle wollten dabei sein, in der großen Gemeinschaft. Weg mit den Mauern, den Grenzen, den Währungen. Das Internet half uns dabei, noch enger zusammenzurücken. Also saßen wir vor den Bildschirmen unserer PCs und freuten uns auf das neue Jahrtausend: alles wird gut.
Nach den Millieniumsfeiern kam der Kater. Die Wirtschaft war heiß gelaufen. Und statt der "blühenden Landschaften" drohte im Osten der große Katzenjammer. Flugzeuge rasten in Hochhaustürme, die Angst ging um. Das Internet hätte alles heilen sollen, und brachte auf einmal nurmehr Würmer und Viren auf die PCs direkt in unser Wohnzimmer. Da war's mit dem "Wir" schnell vorbei, jeder hatte genug mit sich selbst zu tun.
Die Werbung gab die neuen Parolen aus: "Ich bin doch nicht blöd!" und denke an die anderen. "Weil ich es mir wert bin" schmeiß ich alle raus und mach die Türen zu. "Meine Bank" sorgt schon für die nötige Kohle mit einem billigen Subprime Fremdwährungskredit. "Mein Wunsch zählt", und wenn ich mir den nicht leisten kann, dann verkaufe ich eine Straßenbahn und lease sie billig zurück. Hauptsach' die anderen zahlen und ich hab meinen Spaß!
Und wieder sind 10 Jahre vergangen, und wieder haben wir einen riesen Kater. Nur jetzt hilft uns keine "Ost-Fantasie", und statt der großen "Synergien" gibt es Arbeitslosigkeit und Defizit. Noch immer sitzen wir vor unseren PCs, doch jetzt fröstelt uns. Das Internetspiel "Second Life" ist doch kein Ersatz fürs wirkliche Leben, und die "Friends" im Facebook sind ebenso wenig Ersatz für echte Freunde. Wo sind sie auf einmal, all die klugen Propheten und Berater? All die heißen Tipps und das viele schnelle Geld?
Noch immer sitze ich da und starre auf meinen Bildschirm. Langsam lehne ich mich zurück und drehe mich um: "Haaaallo, ist da jemand?" Ich schalte den PC aus und werfe noch einen Blick auf den Monitor: da ist nur mehr diese Spiegelung. Das war's also, was wir all die Jahre gesehen haben!

 

Quelle: woho, erschienen am 1.1.2010
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